Beurteilung

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Beurteilung von Lobbyismus

Öffentliche Wahrnehmung des Lobbyismus

  • Zwei Zitate, die das Problem verdeutlichen:

Die agilen Trupps der Interessenvertreter haben mit Ihrem Egoismus Deutschland gelähmt. […] Das kollektive Schweigen hat den Vormarsch der Verbände begünstigt. Sie sind heute oft mächtiger als die Opposition im Bundestag. Gabor Steingart, „Kämpfen und Kungeln“, in: Der Spiegel, Nr. 47, 25.10.1993, S.50-63

Ohne Lobbyisten könnte Demokratie vermutlich gar nicht funktionieren. […] Es ist kaum denkbar, dass die Politik ohne die Mitarbeit der Lobbyisten auch nur ein einziges vernünftiges Gesetz zustande bringen würde, das hinterher praktikabel wäre. Carl Graf Hohenthal, „Wir erleichtern die Geschäfte der Unternehmen“, In Frankfurter Allgemeine Zeitung, 48. Jg., Nr. 155, vom 6. Juli, S. 13

  • Lobbyisten haben selber keine gute Lobby – werden teilweise sogar als Problem der Gesellschaft wahrgenommen.
  • Sind Lobbyisten Gefahr für die Demokratie oder Notwendigkeit?
  • Auch für die Unternehmen ist das relevant: Die Governmental Relation Studie der BASF aus dem Jahr 2000 über die Einschätzung der Beteiligung von Unternehmen an politischen Diskussionen zeigt dies:
    • Medienvertreter, Politiker und die ‚normale’ Bevölkerung wurden befragt.
    • Während Medien und Politik eine Beteiligung der Unternehmen in vielen Fragen als sinnvoll erachteten, war die Skepsis bei der Bevölkerung gegenüber der Beteiligung von Unternehmen bei der Gestaltung von Politik, insbesondere bei der Ordnungs- und Gesellschaftspolitik, sehr hoch.
  • Auch die Selbsteinschätzung von Lobbyisten spiegelt dies wider: Interessensvertreter von Verbänden schätzen das Ansehen ihre Branche als eher mittelmäßig ein, während sie ihrem eigenen Verband ein gutes Ansehen attestierten.

Theoretische Einschätzung des Lobbyismus

Konservative Staatstheorie

  • Der Staat als Wahrer des Allgemeinguts mittels staatlicher Souveränität und hoheitlichen Aufgaben, die von loyalen Staatsverwalten (Beamten) erfüllt werden
  • Interessensgruppen als Gefahr für die staatliche Souveränität
  • Ziel: Trennung von Staat und Gesellschaft ist erstrebenswert
  • Herrschaft der Verbände wird befürchtet
  • In der klassischen konservativen Staatstheorie wurde dieser Einfluss als schädlich angesehen.
  • Das Bild vom Verbandslobbyisten und insbesondere des Unternehmenslobbyisten, der Argumente aber auch finanzielle Mittel verwendet, um auf den politischen Prozess einzuwirken, prägte das Bild vom Lobbyisten.
  • In dieser Vorstellung ist der Übergang zu Bestechung, Korruption und finanzieller Vorteilsnahme fließend. Der Staat ist vor dem Einfluss der Verbände zu schützen, er kann das Allgemeinwohl nicht mehr durchsetzen, wenn sich Einzelinteressen artikulieren und durchsetzen.

Pluralistische Staatstheorie

  • Kritik an der konservativen Staatstheorie: Es gibt kein per se definiertes Allgemeinwohl.
  • Vielmehr gibt es eine Vielzahl an legitimen Interessen, die in einer pluralistischen Gesellschaft sich organisieren und entsprechend den demokratischen Willensbildungsprozessen sich äußern dürfen.
  • Das Allgemeinwohl stellt sich näherungsweise dadurch ein, dass die pluralistischen Interessen Kompromisse erfordern, die zum Wohl der Allgemeinheit und der Partikularinteressen ausgewogen sind.
  • Der Staat sorgt dafür, dass die Regeln der Interessensartikulation diesen Kompromiss möglich machen, er ist nicht mehr „Träger des Allgemeinwohls“ sondern „Vermittler des Allgemeinwohls“.

Moderner Korporatismus

  • Idee des Korporatismus: Der Staat als Einheit von Politik und Partikularinteressen
  • Kritik an der Pluralistischen Staatstheorie: der Staat kann bei der Vielzahl von Interessen nicht nur Vermittler sein und die Kompromissfindung den Partikularinteressen, sondern er muss die wichtigsten Interessen, deren Positionen sich oft diametral gegenüber stehen, organisieren.
  • Wichtige Interessen sind zum Beispiel Arbeitgeber und Arbeitnehmerinteressen, Umweltschützer und Industrieinteressen, Gesundheitsanbieter und Gesundheitsnachfrager.
  • Diese Interessensgegensätze werden in staatlichen Gremien gebündelt und sollen dort unter Moderation und Mitarbeit des Staates die Kompromisse aushandeln
  • Bekannte Beispiele sind die Konzertierte Aktion in den 1970er Jahren der BDR und die zahlreichen Gremien unter Kohl (Bündnis für Arbeit) und Schröder (Hartz - Kommission)
  • Lobbyismus ist nach den Korporatismustheorien ein Tauschgeschäft, bei dem Interessengruppen Informationen und politische Unterstützung gegen die Chance zur Beeinflussung politischer Entscheidungen liefern, während die politischen Entscheider spiegelbildlich dazu derlei Einflussmaßnahmen tolerieren, um an die gewünschten Informationen zu kommen bzw. sich der politischen Unterstützung durch die Verbände und Akteure zu sichern.

Moderne Politische Ökonomie

  • Politische Ökonomie ist ein Teilfeld der Institutionen - Ökonomie
  • Grundidee: Politiker maximieren nicht das Allgemeinwohl, sondern Wählerstimmen, aber auch Verbände maximieren Wählerstimmen, die ihnen ermöglichen, Ihren Einfluss zu verstärken.
  • Auswirkungen auf das Parteiensystem: Mehrheitswahlrecht tendiert zu zwei großen in der Mitte des politischen Spektrums befindlichen Parteien (USA), Verhältniswahlrecht tendiert zu mehreren, den politischen Milieus angepassten, kleinen Parteien (Italien). Deutschland mit Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht hat dementsprechend zwei große, zur Mitte orientierte Parteien plus diverse kleine milieuabhängige Parteien.
  • Auswirkungen auf die Partikularinteressen: es zählt nicht mehr, ob Interessen legitim sind, sondern inwiefern sie Wählerstimmen mobilisieren können.
  • Interessen werden daher unterteilt in organisierfähige und nicht-organisierfähige, sowie konfliktfähig und nicht-konfliktfähige Interessen

Organisierfähigkeit

    • Organisierfähig sind solche Interessen, für die jemand bereit ist, eigene Ressourcen für die Organisation aufzuwenden – beispielsweise Sportvereine, Industrieverbände, Ärzteverbände.
      • Wenn jemand für die Organisation eines partikularen Interesses Ressourcen aufwendet, geschieht dies meist mit dem Kalkül, dass ein Abzug der Ressourcen darin resultieren würde, dass die Organisation kollabiert oder weniger schlagkräftig ist.
    • Nicht-organisierfähig sind solche Interessen, für die die Betroffenen keine eigenen Ressourcen aufwenden können, beispielsweise Interessen zukünftiger Generationen
      • Damit diese Interessen organisiert werden können, muss jemand bereit sein, stellvertretend für die Betroffenen Ressourcen zu organisieren
      • Ein solches Stellvertretertum ist aber meistens mit eigenen Interessens gepaart (bpsw. die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen - www.srzg.de - dient natürlich auch der Profilierung ihrer Mitglieder).
    • Schwer-organisierfähig sind solche Interessen, bei denen man grundsätzlich bereit wäre, eigene Ressourcen aufzuwenden, aber aufgrund der Vielzahl der Betroffenen lieber darauf vertraut, dass jemand anders diese Ressourcen aufbringt (Trittbrett - Fahren). Typische schwer-organisierfähige Interessen sind z.B. die Interessen der Steuerzahler.
      • Tritt-Brett-Fahren ist deswegen möglich, da ein Abzug der Ressourcen die Organisation erstmal nicht schadet oder bemerkbar ist – daher erstmal keine negativen Auswirkungen hat
      • Analog zum Modell des Gefangen-Dilemmas werden allerdings alle Betroffenen ihre Ressourcen abziehen und somit das Interesse nicht-organisierfähig machen.
      • Solche Interessen können nur organisiert werden, wenn sich innerhalb großer Betroffenengemeinschaften Einzelgruppen für das Interesse stark machen, wobei sie dann ihre Partikularinteressen im Sinne des Allgemeininteressens vermarkten – Interessenskidnapping.
      • Beispiel: Bund der Steuerzahler - der lediglich ein Teilinteresse der Steuerzahler, insbesondere von Selbständigen und Gutverdienenden, vertritt.

Konfliktfähigkeit

    • Konfliktfähig sind solche Interessen, bei denen Betroffene Gruppen relativ einfach ihre gesellschaftlichen Funktionen einschränken oder verweigern können, (beispielsweise Ärzte, Müllfahrer, Piloten), ohne dass die Gesellschaft Sanktionsmöglichkeiten hat.
    • Nicht-konfliktfähig sind solche Interessen, bei denen Betroffene keine gesellschaftlichen Funktionen verweigern können, da sie zum Beispiel eher Empfänger von Transferleistungen sind (z.B. Rentner, Arbeitslose).
Organisierfähig Nicht-organisierfähig
Konfliktfähig Ärzte Steuerzahler
Nicht-konfliktfähig Rentner Arbeitslose
  • Kritik an der pluralistischen Staatstheorie: Aufgrund der unterschiedlichen Organisations- und Konfliktfähigkeit ist es daher nicht so, dass sich alle Interessen gleichermaßen äußern können und der Staat als Vermittler tätig sein kann.
  • Kritik am modernen Korporatismus: der Staat hat auch ein intrinsisches Eigeninteresse, bestimmte Interessen zu stärken, die aber nicht notwendigerweise mit dem Interesse zu tun haben, dass der Staat das Allgemeinwohl herstellen will, sondern weil er vielleicht dadurch eher die Stimmen maximieren will.

Netzwerktheorien

  • Netzwerktheoretiker untersuchen die Auswirkungen von Politiknetzwerken auf die Durchsetzbarkeit von Politik:
    • Lobbyisten wollen nicht nur relevante Informationen an die politischen Entscheider liefern, um die Entscheidung zu beeinflussen, sondern es geht darum, dass mittels des Informationstauschs und der Einflussnahme auf politische Entscheidungen die Interessen des Unternehmens oder des Verbands durchgesetzt werden sollen.
    • Der Informationstausch ist also nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck bzw. Methode des Lobbyismus.
  • Kritik an der Pluralismustheorie: Die Durchsetzung von Interessen kann aber nicht in einem für alle zugänglichen „Markt der Interessen“ verwirklicht werden.
    • Nicht im freien Spiel der Verbände werden die Interessen artikuliert, sondern der Lobbyismus sich dadurch kennzeichnet, dass Interessen in eng geknüpften Netzwerken durchgesetzt werden.
  • Diese Netzwerke organisieren sich thematisch nach Politikfeldern und bestehen aus Lobbyisten, Politikern, Journalisten und Mitarbeitern der Ministerialbürokratie. In den Politikfeldnetzwerken werden Informationen zu bestimmten politischen Themen gesammelt, politische Entscheidungen vorbereitet, abgestimmt, durchgesetzt und legitimiert.
  • Kritik an den Korporatismustheorien: Die Vorteile solcher Politikfeldnetzwerke sind nicht in den Bedingungen eines festgefügten, von Konflikt der Interessen und unter öffentlicher Beobachtung stehenden Verbändesystems zu finden sind, sondern die Vorteile der Politikfeldnetzwerke sind Themen-Flexibilität (wenn ein neues Thema auftaucht, wird das Netzwerk nach Bedarf verkleinert oder erweitert), Vertrautheit durch Nicht-Öffentlichkeit und damit verbundene Offenheit der Themendiskussion.
  • Wer Mitglied eines solchen Netzwerks ist, profitiert davon, dass dort erhaltene Informationen verlässlich und ehrlich sind:
    • Abgeordnete, die in einem Ausschuss mit einem Gesetzesentwurf konfrontiert sind, wenden sich an das Netzwerk mit der Bitte um Stellungnahme und Informationen.
    • Mitarbeiter der Behörden und Ministerien, welche die ausführenden Verordnungen erstellen sollen oder die meist sehr detaillierten Gesetzesanhänge vorbereiten, wenden sich an das Netzwerk, um einerseits sicherzustellen, dass die Verordnungen umsetzbar sind, gleichzeitig aber um zu verhindern, dass die Verordnungen den Realitäten (z.B. im Produktionsprozess) widersprechen und vollkommen anders als geplant wirken. Beiden Gruppen (Politik und Verwaltung) helfen die Netzwerke, das Risiko schlechter Entscheidungen zu minimieren.
    • Medienvertreter profitieren von den Netzwerken, da Medien politische Entscheidungen einleiten, indem sie bestimmte gesellschaftliche Probleme öffentlich machen oder skandalisieren, sie kommentieren politische Entscheidungen und müssen diese - stellvertretend für Leser, Zuschauer und Konsumenten – bewerten. Die Informationen des Netzwerks helfen den Medienmachern, die Brisanz von politischen Entscheidungen herauszustellen. Das Netzwerk vermindert also das Risiko schlechter Berichterstattung.
    • Lobbyisten selbst profitieren von dem Netzwerk, indem sie Informationen über geplante Gesetzgebung erhalten, die dann wiederum den zuständigen Entscheidungsträgern in den Verbänden oder Unternehmen zugeleitet werden können.
  • Das Politikfeldnetzwerk wird zur Informationsdrehscheibe. Keines der Mitglieder solcher Netzwerke hat ein Interesse daran, fehlerhafte oder falsche Informationen in das Netzwerk einzubringen, da dann lediglich das Vertrauen der Mitglieder in das Netzwerk vermindert würde. Der offene Austausch von ehrlichen Informationen steigert für alle Beteiligten den Wert des Netzwerks.
  • Kritik an der Politischen Ökonomie: Netzwerktheoretiker kritisieren ebenso wie die Moderne Politische Ökonomie, dass sich bestimmte Politikfeldnetzwerke schwerer als andere organisieren lassen können. Allerdings kann der intrinsische Wert eines solchen Netzwerks fehlende Konflikt- oder Organisierfähigkeit von Interessen wieder wettmachen.
  • Für fast alle Themen gibt es auch dementsprechend auch die entsprechenden Politikfeldnetzwerke. Die globale Netzwerke von Globalisierungsgegnern oder die europaweiten Netzwerke von Europagegnern zeigen, dass sich fast alle Interessen netzwerkartig organisieren lassen, selbst wenn allein die Existenz des Netzwerks den Zweck des Netzwerks ad absurdum führt.

Kommunikations- und Statustheorien

  • Kritik an der Netzwerktheorie: Netzwerktheoretiker werden dafür kritisiert, dass sie eine allzu naive Auffassung von Netzwerken haben. Die Informationen aus den Netzwerken haben nicht nur positive Wirkungen für die Netzwerkmitglieder. Sie werden zwar gegenüber Nicht-Mitgliedern durch das Netzwerk aufgewertet, um diese Statusaufwertung nicht zu verlieren, entsteht ein Eigeninteresse der Mitglieder in der Erhaltung des Netzwerks und mithin eine gewisse Abhängigkeit zwischen den Netzwerkern, welche wiederum die Resistenz gegen „schlechte“ oder „unwahre“ Informationen vermindert. Die Interessen des Netzwerks verschmelzen mit den Interessen der Mitglieder.
  • Auch ein anderer kommunikationstheoretischer Aspekt wird bei der Kritik an den Netzwerktheoretikern vergessen: der Aspekt der Schnelligkeit von Informationen. Es geht beim Lobbyismus nicht darum, Interessen möglichst gut, präzise, vollständig und überzeugend darzustellen, sondern Interessen müssen möglichst schnell artikuliert und dann durchgesetzt werden. Schnelle Politikfeldnetzwerke können die Tagesordnung des politischen Diskurses bestimmen und gezielt Themen in die Öffentlichkeit bringen. Sie ermöglichen ihren Mitgliedern, in internen als auch in öffentlichen Diskursen besser vorbereitet zu sein.
  • Lobbyismus muss unter der Frage bewertet werden, ob bestimmte Interessen schneller oder langsamer artikuliert werden und wie sich dies auf den politischen Prozess auswirkt.
  • Mit den Kommunikationstheoretikern sind neben den Verbänden auch stärker die Unternehmenslobbyisten und Auftragslobbyisten in das Blickfeld der Lobbyismusforschung geraten. Einerseits weil diese auf dem Markt der Lobbyisten einen immer größeren Anteil einnehmen, andererseits weil Unternehmenslobbyisten und Auftragslobbyisten schneller Informationen aufbereiten als Verbände (insbesondere als Unternehmensverbände).